Faust I und II

Verweile doch … 

Brigitte Udke

Zugegeben: Mit gemischten Gefühlen bin ich in die Inszenierung von „Faust I und II“ ins Berliner Ensemble – mehr als vier Stunden Spieldauer – gegangen. Ich hatte keineswegs eine „klassische“ Aufführung von Goethes Meisterwerk erwartet. Wer darauf setzt, muss enttäuscht werden. Aber gar ein Musical? Gibt dieser Stoff das überhaupt her? Regisseur Robert Wilson (Regie, Bühne, Lichtkonzeption) und Herbert Grönemeyer (Musik und Lieder) treten den Beweis an, dass das zu machen ist – und zwar auf sehr unterhaltsame Weise.
Die Textfassung, die Jutta Ferbes besorgt hat, verkürzt das gewaltige dramatische Werk so gekonnt, dass der Gesamtrahmen und wesentliche Passagen der Urfassung erhalten bleiben. So beispielsweise der Osterspaziergang (Teil I, 4. Szene), der Auftritt Gretchens in ihrem Zimmer mit dem Lied vom König in Thule (Teil I, 8. Szene) oder das Lied des Türmers (Teil II, 11. Szene). Dennoch: Wer in die Vorstellung ohne literarische Vorkenntnisse geht, der hat mitunter Schwierigkeiten, der Handlung immer zu folgen bzw. einzelne Passagen voll zu erfassen. Das trifft vor allem auf Teil II der Aufführung zu.

Es sind besonders drei Dinge, die diese Inszenierung großartig machen:
An vorderster Stelle sind die Schauspieler hervorzuheben. Insbesondere die Leistung von Mephistopheles, dargestellt von Christopher Nell. Wie er spielt, singt und tanzt – einfach meisterhaft, faszinierend! Eindringlich auch vor allem der Faust von Fabian Stromberger. Beachtlich ist insgesamt die Sprechkultur der Agierenden – wenn auch Mikro-verstärkt. Kaum eine/r spricht die Texte einfach “so weg“ (wie das ja inzwischen andernorts gang und gebe geworden ist). Das gilt auch für die an der Aufführung beteiligten Studenten der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.
Dann zum zweiten die musikalischen Arrangements (Grönemeyer und Alex Silva), einfühlend gespielt vom Orchester, einer Live-Band exzellenter Individualkönner! Einige der Lieder gleichen Ohrwürmern. Man wünschte sich, sie einfach noch einmal zu Hause via CD genießen zu können. Grönemeyer beweist hier erneut, dass er nicht nur als Sänger Außerordentliches leistet.
Wilson und Grönemeyer ist es gelungen, einen „leichten, verständlichen Faust“ zu machen, der vor allem auch jugendliche Zuschauer ansprechen soll. Im instruktiven Programmbuch wird zu recht Rüdiger Safranski mit den Worten zitiert: “Jede Generation hat die Chance, im Spiegel Goethes auch sich selbst und die eigenen Zeit zu verstehen.“
Und schließlich drittens: Jedes Szenenbild – ein Ereignis aus Bühnentechnik, Farbe, Licht und Musik. Beeindruckend – wenn auch erst einmal überraschend – die eingespielten Videoprojektionen (Tomek Jeziorski).

Den Zuschauern hat es ganz offensichtlich gefallen, wie ihr Applaus beweist. Nicht wenige  sind wie ich nach der Vorstellung angeregt, den „Faust“ noch einmal nachzulesen.
Die Regie gibt aber auch Rätsel auf. Eines davon konnte ich zum Beispiel partout nicht lösen: Warum vier (bzw. fünf) Faust-Darsteller, aber nur dreimal Gretchen?
Meine Empfehlung: Hingehen, anschauen und weiter darüber nachdenken!

Mai 2015