Geschichte

 

Immer schreibt der Sieger die Geschichte …

                                                                                          von Gerwin Udke

Es ist schwer zu klären, auf wen dieser Satz/diese Erkenntnis letztlich zurück geführt werden kann – dieser Satz, dass „immer der Sieger die Geschichte schreibt.“ Dass letztlich von den bewegenden Ereignissen der Weltgeschichte nur das bleibt, was die Sieger berichten. Waren es schon `die Alten`, die alten Griechen und Römer, oder war es Napoleon, war es Churchill? Oder geht dieser Satz/diese Erkenntnis tatsächlich zurück auf Bertolt Brecht, auf
„Die Verurteilung des Lukullus“?

    Ganz gleich! Von Bertolt Brecht ist überliefert: „Immer schreibt der Sieger die Geschichte der Besiegten. Dem Erschlagenen entstellt der Schläger die Züge. Aus der Welt geht der Schwächere und zurück bleibt die Lüge.“

    Das ist tausendfach belegt. Betrifft vor allem die Kriege in den zurückliegenden Jahrhunderten und die Kriegsgeschichtsschreibung der Sieger. Die Sieger, die Kriegsgewinner schreiben ihre eigene Geschichte. Die Bewahrung, die Überlieferung der Quellen von historischen Abläufen wird vom Sieger bestimmt. Er, der Sieger, bewahrt, was seine Interessen, seine Ziele belegt. Er hat die Macht zu entscheiden und zu bestimmen, was bleibt. Die Macht, die Gesetze, ja seine Sprache werden vom Sieger in besiegte, in eroberte Länder getragen. Und seine Berichte gehen in die Geschichte ein. Nur diese sind in den Geschichtsbüchern nachzulesen.

    Also: Der Sieger schreibt die Geschichte seines Sieges. Aber: Der Satz des B. B. sagt auch: Er, der Sieger, schreibt nicht nur seine Sieggeschichte; er schreibt auch die Geschichte der Besiegten. Die Berichte, die Ansichten, die Meinungen, die Stellungnahmen der Verlierer, der Besiegten selbst werden nicht beachtet. Sie gehen unter, gehen verloren, werden nicht bewahrt. Sie werden nicht überliefert. Verlierer, Besiegte können sich nicht rechtfertigen. Sie werden nicht gehört. Sie haben verloren, sie sollen nicht gehört werden, sie sollen sich nicht rechtfertigen können. Angesichts ihres Sieges verdammen die Sieger im Nachhinein diejenigen, die sie besiegt haben.
Ein Großteil der Siegesberichte – das sind auch und vor allem schlichtweg Lügenberichte über die Besiegten. Und: Verlierern werden alle Möglichkeiten genommen, die Lügenurteile der Sieger über die geschlagenen Besiegten richtigzustellen. 

    Weil das so ist, gerade deshalb ist es unerlässlich, dass diejenigen, die besiegt worden sind, die verloren haben, ihre Geschichte bewahren. Zur Geschichte der Besiegten gehört zu bewahren, was alles erreicht, was trotz des übermächtigen Drucks der Gegner alles bewerkstelligt worden ist. Was in mühevoller Arbeit errungen – aber eben nicht erhalten werden konnte. Die Besiegten haben denen, die in gutem Glauben mit ihnen gekämpft und eben verloren haben, untergegangen sind, auch ehrlich zu offenbaren, was sie darüber wissen, wie alles gekommen ist. Vor allem: Weshalb sie verloren haben. Welche Fehler zur Niederlage, zum eigenen Versagen geführt haben. Warum die Sieger gesiegt haben!

    Die Berichte der Besiegten über das Erreichte – was aber verloren ist, und zugleich die ehrliche Bilanz über die Ursachen für die Niederlage – das ist der Schlüssel, den die Besiegten den Nachgeborenen in die Hand geben können. In die Hand geben müssen für einen schließlich doch erfolgreicheren Neuanfang, für ihr Ringen, für ihren Kampf für eine bessere Welt.

Oktober 2021