Ignoranz


Folgen der Ausgrenzung

Rechtsextremistische Vorkommnisse und die Wahlerfolge der AfD in den ostdeutschen Bundesländern rufen ernste Besorgnisse hervor. (West)deutsche Medien verweisen in diesem Zusammenhang auf die `schändlichen Nachwirkungen des gescheiterten Realsozialismus`, auf das Versagen verantwortlicher Leute in Ostdeutschland. Vehement wird geleugnet, dass in Westdeutschland jahrzehntelang der Nährboden für das Wiederaufleben rechtsextremistischer Kräfte gewachsen ist. Dass die Mehrzahl der rechten Wortführer und Einpeitscher, die in Ostdeutschland bis in die Landtage hinein agieren, aus dem Westen kommt. Dass ein erheblicher Teil der Teilnehmer an rechtsextremistischen Aufläufen in Sachsen, Thüringen und Mecklenburg/Vorpommern aus dem Westen anreist.

Aber auch die politisch engagierten Menschen in Ostdeutschland fragen besorgt, wie es dazu kommen konnte, dass auch hier in den Jahren seit der Wiedervereinigung Rechtsextremismus und Antisemitismus wieder aufleben konnten.
Sie fragen, wie es dazu kommen konnte, dass größere Teile der Bevölkerung die Neofaschisten der AfD wählen. Wie es zu Zuständen kommen konnte, die bedrohlich an die Abläufe Anfang der dreißiger Jahre im vorigen Jahrhundert erinnern. Und vor allem fragen sie angesichts dieser Entwicklungen, wie verhindert werden kann, dass sich die Gegensätze zwischen Ost und West, zwischen Arm und Reich, zwischen Demokraten und rechten Extremisten weiter zuspitzen.

Das rasante Aufkommen der AfD in Ostdeutschland ist nicht lineare Folge einer bestimmten Einzelursache. Es ist vielmehr die Folge des Wirksamwerdens einer ganzen Reihe negativer Umstände:

- Nach dem abrupten Beitritt des vormals souveränen ostdeutschen Staates zur westdeutschen Bundesrepublik ist das Gesellschaftmodell der West-Kapitalordnung Knall und Fall auf die ostdeutschen Länder übertragen worden. Ein Gesellschaftsmodell, das im Gegensatz zu den dort in vier Jahrzehnten gewachsenen realsozialistischen Verhältnissen steht.
- In allen Bereichen der Politik, Ökonomie, in der Rechtsordnung und Justiz, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Kunst, Kultur usw. sind die vordem dort aufgebauten realsozialistischen Strukturen zerschlagen, die bis dahin geltenden Verhaltensregeln außer Kraft gesetzt worden.
- Die ökonomischen und sozialpolitischen Errungenschaften der DDR wurden beseitigt.
Es wurden Institutionen etabliert und Regeln oktroyiert, die die Bürger in weiten Bereichen entmündigen, in selbstbestimmtem Handeln behindern.
- Tausende Betriebe und Einrichtungen wurden stillgelegt, hunderttausende arbeitsame Menschen der Arbeitslosigkeit ausgeliefert, ihres Lebensinhalts beraubt.
- Ganze Landstriche in Ostdeutschland sind durch die Abwerbung und Abwanderung junger, kreativer und qualifizierter Leute nach Westen entvölkert.
- Die maßgeblichen lukrativen Positionen in fast allen Lebensbereichen, in Ökonomie, Politik und Justiz, in den Medien, in den Bildungs- und Kultureinrichtungen in Ostdeutschland sind weiterhin von Westdeutschen besetzt.
- Ostdeutsche sind in den Einkommens- und Vermögensstrukturen nach wie vor extrem benachteiligt.
Alle diese Einzelfaktoren kulminieren in einer Hauptursache für das Wiederaufleben von Rechtsextremismus und Neofaschismus in Ostdeutschland:

Sie sind Folge der Ausgrenzung und Ignoranz des Westens, der politischen Akteure der Alt-Bundesrepublik gegenüber der Lebensleistung der Ostdeutschen, gegenüber deren Interessen, Erfahrungen, Fähigkeiten, Überzeugungen und Ansichten.


Die etablierten Parteien CDU/CSU und SPD sowie die anderen Organisationsstrukturen der Alt-Bundesrepublik erweisen sich außerstande, bei der Gestaltung der Umbruchsprozesse nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik den Grundinteressen und Erfahrungen der Ostdeutschen sowie ihren Vorstellungen über den weiteren Weg des wiedervereinigten Landes Rechnung zu tragen. Viele Ostdeutsche, die seinerzeit aus berechtigten Gründen mit Entwicklungen in der DDR unzufrieden waren, sind vor dreißig Jahren auf die Versprechungen der Kohl und Co., auf das Gerede von „Freiheit“, „Demokratie“ und unbegrenzten Reisemöglichkeiten herein gefallen.
An die Stelle der Euphorie zu „Wende“-Zeiten für D-Mark, Konsum und Reisen in die ganze Welt sind bald Enttäuschung, Frust und Wut über die Ausgrenzung durch die neuen Herren getreten.
Viele der Bürgerrechtler und Wende-Aktivisten, die einen anderen, einen besseren, demokratischeren Sozialismus angestrebt hatten, sahen sich allzu bald von der erdrückenden Herrschaft der „Besser-Wessis“ überrollt. Sie wurden damit konfrontiert, dass die maßgebenden Leute, die die Zepter übernommen hatten, ganz andere Vorstellungen über das neue Gesamtdeutschland hatten als sie.
Viele der Ausgegrenzten, diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben, deren Qualifikation, das bisher von ihnen Geleistete weitgehend ignoriert worden sind, deren Meinung nicht mehr gefragt war, haben resigniert, haben sich zurückgezogen. Sie hatten zu DDR-Zeiten nicht gelernt, sich in unerbittlichen Konkurrenzkämpfen zu behaupten. Und, es waren und sind ja eben nicht nur einzelne, bei denen erlittene Demütigungen Frust ausgelöst haben. Bei denen erlittene Zurücksetzungen zu Aufbegehren und Wut eskaliert sind. Deren Frust sich in Gewaltaktionen entladen hat.
Ohnmacht, Unzufriedenheit, Nichtmehr-Gebrauchtwerden im Arbeitsprozess und bei der Gestaltung des öffentlichen Lebens haben bewirkt, dass auch viele persönliche Bindungen und Familienbeziehungen zerbrochen sind. Tausende haben ihre Wohnung verloren, sind im Sinne des Wortes auf der Straße gelandet.
Auch im Alltagsverhalten, in der Mentalität großer Teile der Bevölkerung vollzogen sich erschreckende Veränderungen: Zu DDR-Zeiten wäre es ja unvorstellbar gewesen, dass normale Bürger an Bahnhöfen und vor Geschäften einfach an Verwahrlosten und Bettlern vorbeilaufen, ohne diesen in irgendeiner Form die so dringend erforderliche Hilfe oder Unterstützung zukommen zu lassen.

Angesichts dieser Erfahrungen haben rechte Populisten und Extremisten, die mit nassforscher Stimme grundlegende Veränderungen versprechen, schnell Resonanz gefunden.
Viele Wähler, die bis dahin Vertreter der traditionell etablierten Parteien gewählt hatten und bisherige Nichtwähler wählen Rechtspopulisten, die ganz offen neonazistische Parolen skandieren. Die dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer infam demagogisch dazu anstacheln, nunmehr „die Wende zu vollenden“!
Unter den Ausgegrenzten und Enttäuschten, die AfD wählen, sind nicht etwa nur Langzeitarbeitslose oder irgendwelche Aussteiger, sondern auch ein Gutteil „normale Bürger“ aus allen Schichten der Bevölkerung.
Zwischenzeitlich sind so auf ganz legalen Wegen starke AfD-Fraktionen in die Landesparlamente sowie in den Bundestag eingezogen, die darauf aus sind, bislang funktionierende parlamentarische Strukturen lahm zu legen. Die AfD stärkt zielgerichtet rechtskonservative Kräfte, attakiert vehement Linke und Grüne sowie auch liberale Akteure der `bürgerlichen` Parteien. Im Bestreben,  Machtpositionen zu erlangen führt sie diese regelrecht am Nasenring durch die Manege.

Diese Entwicklungen haben sich keinesfalls im „stillen Kämmerlein“ vollzogen. Die sog. bürgerlichen Parteien, die öffentlichen Medien, die offizielle Information und Propaganda, Akteure in den digitalen sozialen Netzwerken haben dafür den Boden bereitet. Anlässlich von Jahrestagen und `Jubiläen` der Wendezeit warnen Politiker und Ideologen vor herauf ziehenden „roten Gefahren“. Mit großem Aufwand werden fragwürdige Erinnerungsberichte zelebriert, die letztlich allesamt darauf hinaus laufen, die sozialen Errungenschaften der DDR, die Lebensleistung und die Erfahrungen der Ostdeutschen in Bausch und Bogen zu diffamieren.
Seit Jahr und Tag wird den berechtigten Forderungen zur Angleichung der Arbeits-, Lebens- und Eigentumsverhältnisse in Ost und West nur unzureichend Rechnung getragen.
FAZIT: CDU/CSU, FDP und die rechtskonservativen Akteure der anderen etablierten Organisationen haben mit ihrer Politik der Ausgrenzung und Ignoranz gegenüber den Leistungen, den Interessen und Vorstellungen großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik den Boden bereitet für das Wiederaufleben von Rechtsextremismus. Mit ihrer Ignoranzpolitik haben sie den Boden bereitet für das Auftrumpfen der AfD, für die zunehmende Empfänglichkeit der Ausgegrenzten und Benachteiligten für Neofaschismus, Antisemitismus und Feindschaft gegenüber Migranten. Sie haben den Boden bereitet für die Wahl von Rechtsextremisten in kommunale Vertretungskörperschaften und in die Parlamente, für deren immer aggressivere Aktivitäten.
Die Lage ist ernst! Niemand kann sagen, er habe von nichts gewusst!
Diesen Entwicklungen kann nur Einhalt geboten werden durch das breite Bündnis, durch die Einheitsfront aller demokratischen Kräfte, die die Lehren aus der Geschichte beherzigen..

Gerwin Udke
Februar 2020