Aufhalten


Einholen oder überholen?
Höher, schneller, weiter?

Gerwin Udke

1.
In den Zeiten des Kalten Krieges hatte die KPdSU verkündet, die sozialistische Welt werde den Kapitalismus bald einholen und dann überholen. Und die Führung der SED hatte mit Bezug auf diese in der Sowjetunion proklamierte Losung die Forderung aufgestellt:
„Überholen ohne einzuholen!“
Diese Losung orientierte darauf, im Wettstreit der Systeme die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen – aber o h n e  all die Tiefen und Irrwege des Kapitalismus nach zu vollziehen.

In den vierzig Jahren des realsozialistischen Aufbaus ist in der DDR immer wieder an Plänen gearbeitet worden, wie es dem Sozialismus auch unter komplizierten Bedingungen gelingen kann, die alte Gesellschaft, den beharrlichen Konkurrenten im unerbittlichen Klassenkampf, nicht nur einzuholen, sondern letztlich eben auch zu überholen.
Wie auf deutschem Boden die Überlegenheit der von Karl Marx und Friedrich Engels in Grundzügen theoretisch konzipierten Ordnung gegenüber dem Kapitalismus in der Praxis bewiesen werden kann.

Im Kern ging es dabei um die Suche nach Wegen, wie beim Aufbau des Sozialismus Schritt für Schritt ein höheres Niveau der Arbeitsproduktivität und der gesellschaftlichen Produktivkräfte insgesamt erreicht werden kann als im Kapitalismus – zum Nutzen und zum Wohle aller arbeitenden Menschen.
Der Rückstand gegenüber dem Westen sollte auf sozialistische Weise, auf der Grundlage sozialistischer Produktionsverhältnisse aufgeholt werden.

2.
Die SED-Führung hat bereits 1958 – trotz der noch immer schweren Nachwirkungen des Krieges – auf ihrem V. Parteitag die optimistische Einschätzung formuliert, dass in der DDR Ende der 1950er Jahre
„die Grundlagen des Sozialismus im Wesentlichen geschaffen sind“.
Davon ausgehend formulierte Walter Ulbricht die Aufgabe, in der DDR den
Pro-Kopf-Verbrauch gegenüber Westdeutschland zu erreichen und dann zu übertreffen. Die SED-Führung ging – trotz Bedenken so mancher Skeptiker – davon aus, dass „drei Jahre angestrengter Arbeit notwendig (seien), um die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR gegenüber der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Westdeutschland unter Beweis zu stellen.“

Der Schlüssel zur Lösung dieser hochgesteckten ökonomischen Hauptaufgabe sei – so Walter Ulbricht – die rasche Steigerung der Arbeitsproduktivität. Nach diesen Plänen sollte bis Mitte der 1960er Jahre in der DDR im Wesentlichen eine höhere Arbeitsproduktivität als in der BRD erreicht werden.

Visionär ging Walter Ulbricht davon aus:
Die DDR wird bis 1961 auf allen wichtigen Gebieten der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern Westdeutschland einholen und zum Teil übertreffen.
Das waren hochgesteckte Ziele!

3.
In der Wirtschaft sollte dem Welthöchststand nicht auf bereits mehr oder weniger bekannten Wegen nachgeeilt werden, um ihn zu erreichen. Vielmehr sollten gewissermaßen an ihm vorbei, völlig neue Wirk- und Arbeitsprinzipien, neue Technologien erkundet und praktisch beherrscht werden und auf diese Weise ein neuer Höchststand bestimmt werden.

Das vorgesehene Tempo für die Verwirklichung politischer Ziele im harten ökonomischen Konkurrenzkampf mit dem Westen im Sinne des Konzepts vom „Überholen ohne einzuholen“ konnte aber nicht durchgehalten werden. In den folgenden Jahren waren Partei und Regierung der DDR immer wieder gezwungen, Präzisierungen der Planziele, das heißt: Abstriche an den programmatischen Zielen vorzunehmen.
Dennoch ist die grundlegende Kursrichtung beibehalten worden.
Auf dem VI. Parteitag der SED hat Walter Ulbricht 1963 ausgeführt:
Das neue Zeitalter, das Zeitalter des Sozialismus, hat auch in Deutschland begonnen.“ Und im 1963 auf diesem Parteitag beschlossenen Programm der SED heißt es:
Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ist Hauptinhalt und grundlegendes Entwicklungsgesetz unserer Epoche. …
Das große Ziel dieses Programms ist der vollständige und umfassende Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. …
Nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse ist der umfassende Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, der die Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus abschließen wird, Hauptinhalt der Tätigkeit der Arbeiterklasse und der Werktätigen.“

Walter Ulbricht, Das Programm des Sozialismus und die geschichtlichen Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 5, 279, 280, 321.

Das Programm der SED von 1963 ging unbeirrt von der Vision aus:
Das sozialistische Weltsystem geht in dem weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus zuversichtlich dem entscheidenden Sieg entgegen.“
(S. 377, 380)

In den 1960er Jahren ist klar geworden, dass zum Erreichen der propagierten Zielstellungen auch in der DDR grundlegende Strukturveränderungen und neue Ansätze zu effektiverer Wirtschaftsleitung unumgänglich sind.
Durchgreifende Änderungen sollten mit der Einführung des „Neuen ökonomischen Systems“ der Planung und Leitung der Volkswirtschaft erreicht werden. Das NÖSPL orientierte darauf, die zentralistische Planwirtschaft unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu reformieren. Mikroelektronik und andere Schlüsseltechnologien wurden gefördert. Den Betrieben wurde größere Eigenständigkeit zugestanden. Das hat sich positiv auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität ausgewirkt.

Walter Ulbricht hat dann 1970 behauptet:
„Durch die unaufhaltsame Entwicklung des sozialistischen Systems hat die Arbeiterklasse im Bunde mit der Intelligenz in der DDR die moralische Überlegenheit unserer fortschrittlichen Gesellschaftsordnung gegenüber dem vom Profitstreben der Monopole geprägten System der Bundesrepublik eindeutig bewiesen.“

Walter Ulbricht, „Überholen ohne einzuholen“ - ein wichtiger Grundsatz unserer Wissenschaftspolitik, Die Wirtschaft vom 26. 2. 1970, S. 8: Hvh.: G. U.

4.
Die Reformansätze in der Wirtschaft sind aber nach 1971 abrupt abgebrochen worden. Die Parteiführung unter Erich Honecker hat gravierende Kursänderungen vollzogen. Unter der Losung von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ist das administrative Planungssystem wieder gestärkt worden. Damit verbundene Fehlentscheidungen trugen dann dazu bei, dass sich in der Wirtschaft der Abstand zum Westen nicht verringert, sondern sogar immer mehr vergrößert hat.

Dessen ungeachtet hat die SED-Führung unter Erich Honecker 1976
„für die kommende Periode das Ziel (gestellt), in der Deutschen Demokratischen Republik weiterhin die entwickelte sozialistische Gesellschaft zu gestalten und so grundlegende Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus zu schaffen.“

IX. Parteitag der SED, Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands,
Berlin 1976, S. 9, 19

Aber: Diese Zielstellungen waren nicht realisierbar. Nicht nur die proklamierte Losung vom „Überholen“, sondern auch die vom „Einholen“ der alten, überlebten Kapitalordnung konnte nicht verwirklicht werden. Es hat sich als unrealistisch, genau genommen regelrecht als falsch erwiesen, sich im unerbittlich geführten Wettstreit der Systeme an den Maßstäben des totalitären „Höher, schneller, weiter!“ der Kapitalordnung zu orientieren. Die Strategie vom „Überholen ohne einzuholen“ führte in eine Sackgasse, da sie ja letztlich darauf ausgerichtet war, sich – auf welche Weise auch immer – an den zutiefst fragwürdigen „Werten“ des unersättlich auf Profit ausgerichteten Kapitals messen zu wollen.

Und, noch schlimmer: Offensichtlich hat keiner der maßgebenden Leute in der SED und der DDR wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen, dass es unter Umständen doch anders, ganz und gar umgekehrt laufen könnte. Dass nicht etwa der Sozialismus seinen erfolgversprechenden Weg „gesetzmäßig“ (!) fortsetzen, sondern der Kapitalismus die Geschichte wieder zurückdrehen könnte!

In den 1980er Jahren ist in allen Lebensbereichen das Zurückbleiben hinter den hochgesteckten Zielen unübersehbar geworden. Die wohlklingenden Propagandalosungen und die Realität klafften immer weiter auseinander.

Immer mehr Menschen waren enttäuscht, dass die Prophezeiungen vom baldigen Sieg im technologischen Wettstreit mit dem Westen und die angekündigten Verbesserungen im Lebensstandard nicht eintraten. Und sie sind dann auf die wohltönenden Versprechungen von der anderen Seite, aus dem Westen, hereingefallen.
Allzu viele enttäuschte DDR-Bürger wanderten einfach nach Westdeutschland oder ins westliche Ausland ab. Weil sie meinten, dort schneller „ein besseres Leben“ für sich erreichen zu können. Sie haben sozusagen persönlich für sich „auf eigene Kappe“ überholt. Also diesen Staat, der die Losung vom „Überholen ohne einzuholen“ propagiert hatte, einfach hinter sich zurück gelassen.
Und die Wirtschaft der Bundesrepublik konnte vom Zuwachs tausender qualifizierter Arbeitskräfte profitieren! Auch auf diese Weise ist die Position des Westens in der unerbittlichen Auseinandersetzung mit der sozialistischen Welt gestärkt worden.

5.
1989/1990 ist der Realsozialismus nach dem Muster der Sowjetunion „in den Farben der DDR“ dem aggressiven Druck der Monopolordnung des Westens unterlegen. Er ist gescheitert. Mit der „Wende“ und dem bedingungslosen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sind alle Anstrengungen zur Errichtung einer sozialistischen Ordnung auf deutschem Boden erst einmal abgebrochen worden. Wesentliche soziale Errungenschaften für die Werktätigen wurden wieder beseitigt. Das ist ein nicht weg zu diskutierender historischer Fakt.

Das ändert aber nichts daran, dass sich der seitdem noch unbegrenzter weltweit herrschende Kapitalismus historisch überlebt hat. Angesichts der aktuellen Exzesse imperialen Herrschaftsstrebens steht mit noch viel größerem Nachdruck die Aufgabe, gangbare Wege heraus aus den chaotischen Gesellschaftsstrukturen des Realkapitalismus zu finden. Endlich hin zu einer Ordnung, in der der Mensch nicht mehr des Menschen Feind ist. In der nicht mehr rücksichtslose Konkurrenz,  „Wachstum um jeden Preis“ und Gewalt, sondern der Mensch mit seinem Streben nach einem Leben in Frieden, Solidarität und Gemeinsamkeit tatsächlich zum Maß aller Anstrengungen wird.

6.                                           
Beim Weg in eine wahrhaft den Menschen gerecht werdenden Gesellschaft geht es tatsächlich darum, den Kapitalismus nicht nur irgendwie einzuholen, sondern letztlich doch im Sinne des Wortes zu überholen.
Aber eben gerade nicht, indem sich die Fortschrittskräfte einfach den Wertmaßstäben des Kapitals anpassen oder diesen unterordnen!
Die „Werte“ der Kapitalordnung: Geldanhäufung, Profit und unbegrenztes Wachstum im Sinne eines „Immer höher, immer schneller, immer weiter!“ – das können nicht die Wertmaßstäbe der angestrebten Zukunftsgesellschaft sein. Denn die Praktiken der Monopole, diese „Werte“ der Kapitalordnung weltweit zu verbreiten, haben überall viele Millionen in unermessliches Elend und Not gestürzt.

Die durch Gewalt und Krieg im sogenannten „Kampf gegen den Terror“ ausgelöste Völkerwanderung aus dem Nahen Osten und Afrika nach West- und Mitteleuropa und die brutale Abwehr der Zuwanderung entlarven das ganze salbungsvolle Gerede der westlichen Welt von „Freiheit“, Menschenrechten und Demokratie als Betrug.

Zu aller erst geht es darum, die zu Gewalt und Kriegen, nach unbegrenzter Weltherrschaft treibenden Kräften aufzuhalten, sie in die Schranken zu weisen.
Alle Fortschrittskräfte müssen sich zusammenschließen, um zu verhindern, dass die überlebte Ausbeuterordnung angesichts ihres drohenden Bankrotts große Teile der Zivilisation, wenn nicht die ganze Menschheit mit in den Untergang reißt. Es geht um die Entmachtung aller an Krieg und Gewalt Verdienenden. Es geht um den Übergang zu einer weltweiten Friedensordnung.

Das ist die unerlässliche Voraussetzung für schrittweises reales Überholen der alten Gesellschaft auf allen Gebieten und in allen Bereichen des Lebens. Für die Durchsetzung anderer, wahrhaft menschenwürdiger Wertmaßstäbe. Für die Befreiung der Arbeit, für die Beseitigung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung. Für den Übergang zu einer gerechten Nutzung aller Ressourcen der Natur. Für das Erkämpfen von Demokratie, Bildung und Kultur für alle Menschen und für alle Völker. 

Die überlebte Kapitalordnung zu überholen – das ist gerade angesichts der Gefahren im Atomzeitalter nicht „auf einen Schlag“, nicht „mit einem Sprung“ und eben auch keinesfalls mit militärischer Gewalt zu erreichen. Das ist eine komplexe, umfassende Aufgabe. Sie betrifft alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Sie erstreckt sich auf Ökonomie, Politik, Kultur, Lebensweise usw. Inzwischen ist klar, dass dafür ein historisch langer Umwälzungsprozess erforderlich sein wird. Eine – wie gesagt wird – ganze Epoche der Transformation und des Übergangs in eine neue Gesellschaft.
                           
Siehe dazu weiter: Gerwin Udke, Einholen oder überholen?

Höher, schneller, weiter? Anmerkungen zu populären Losungen
und – was davon zu halten ist,
Berlin 2016, 48 Seiten.