„Als wir träumten“ …
Gerwin Udke
„Als wir träumten“ – das ist ein schöner, ein verheißungsvoller
Titel für einen aktuellen deutschen Film!
Aber – erst wollten wir uns diesen Film gar nicht ansehen. In
Ankündigungen war von Sauf-Partys, Techno-Gelärme und Gewaltorgien die Rede. Er
ist als „hart“ und „grausam“ charakterisiert worden. Der Film war zur Berlinale eingereicht. Dort ist er aber
im Grunde leer ausgegangen. Für die Jury war er wohl „zu drastisch“, „nicht gut
genug“, oder?
Vielleicht ist dieser Film für manchen aber auch einfach zu
offen, zu ehrlich, zu anprangernd.
Wenn man mitreden will, muss man sich diesen Film also doch ansehen.
Ein harter Film! Erst einmal ganz anders als andere Dresen-Filme.
Erschütternd, was die Filmemacher auf der Grundlage des
literarischen Bestsellers von Clemens
Meyer über den Weg und das Schicksal dieser sechs Heranwachsenden in
komplizierten Zeiten zu berichten haben. Es ist die Zeit des „Dazwischen“, des
Umbruchs in Ostdeutschland. Von der DDR, die gescheitert ist – zum Beitritt zur
Bundesrepublik. Eine Zeit, in der viele hofften, dass ihre Träume in Erfüllung
gehen. Eine Zeit, in der sich vor allem für die jungen Leute ganz neue
Horizonte eröffnet haben. In der auch für die Kinder, die in der DDR zur Schule
gegangen sind, nun plötzlich scheinbar „ALLES“ möglich schien. Das war eine
Zeit der Utopie vom großen Glück.
Das war aber eben zugleich auch jene Zeit, als für die
Ostdeutschen alles, was vordem galt, als alle „alten Werte“ zusammen gebrochen
sind. Die alten Regeln galten nicht mehr, neue Regeln galten noch nicht. …
Der Film erzählt die Geschichte vom Erwachsenwerden in einer
orientierungslosen Welt: Düster, wild, anarchisch, dramatisch, aber eben auch
mit Sehnsüchten und viel Hoffnung.
Er erinnert irgendwie an „Rocco und seine Brüder“. Vielleicht
auch ein wenig an „Rummelplatz“, den DDR-Film nach dem beeindruckenden Roman
von Werner Bräunig.
Da ging es auch um junge Menschen in dramatischen
Umbruchszeiten – damals nach dem Zweiten Weltkrieg, beim schweren Anbeginn einer
neuen, besseren Zeit.
Der Film „Als wir träumten“ schildert Abläufe aus der DDR-Endzeit,
Jahrzehnte später.
Er führt drastisch vor Augen, wie die Heranwachsenden aus
den behüteten und eingefahrenen Strukturen der DDR-Gesellschaft nach 1989 sich
selbst überlassen und ohne jede Hilfe an die „neue Freiheit“ ausgeliefert
worden sind. Wie viele von ihnen einfach nicht zu recht kommen konnten in
dieser neuen Zeit. Weil die heraufziehende andere Ordnung sie gnadenlos ihrem
Schicksal überlassen hat.
Die Lehrer, die Eltern und die Leute in den Verwaltungen hatten
mit ihren eigenen existentiellen Sorgen zu kämpfen. Der Lebensinhalt vieler Erwachsener,
die bis dahin fleißig ihrer beruflichen Tätigkeit nachgegangen waren, war weggefallen,
von den „neuen Herren“ einfach beseitigt worden. Viele waren ratlos, haben sich
zurück gezogen, weggeschaut, geschwiegen.
Die aufbruchstragischen Helden des Films, diese sympathischen
fünf Jungen und das attraktive Mädchen „Sternchen“ – das ist eine Jugendclique
in der Wendezeit am Rande einer ostdeutschen Großstadt. Das sind die Kinder der
„Wende“- und Beitritts-Verlierer. In Leipzig, in der Stadt, auf deren Straßen
die „Wende“-Marschierer ganz wesentlich mit die Weichen gestellt hatten von diesen „Wir sind das
Volk“-Rufen zum: „Wir sind ein Volk“!
Zum Hals über Kopf vollzogenen Beitritt des vordem souveränen Staates DDR zur
Alt-Bundesrepublik. Und damit zurück in die nach den Gesetzen gnadenlosen Konkurrenzkampfes
funktionierende Kapitalgesellschaft.
Dieser „neuen Freiheit“ sind die Jugendlichen bedingungslos
ausgeliefert. Das im Realsozialismus Gelernte, die dort vermittelten Leitlinien
erweisen sich für sie Knall und Fall als wertlos. Sie meinen, sich jetzt und
sofort ganz ohne jede Unterordnung und Disziplin, ohne jeglichen Zwang einfach
ausleben zu können. Sie rebellieren, brechen Autos auf, rasen alkoholisiert
nachts durch die Leere und Ödnis menschenleerer Vorstadtstraßen. Berauschen
sich an Techno-Getöse und Saufgelagen.
Es findet sich niemand, der sie bremsen, ihnen aus der
totalen Verunsicherung heraus helfen könnte. Unerbittlich sind sie – allein
gelassen – mit den Trümmern des Gescheiterten, mit dem Egoismus und der Gewalt
der Gleichaltrigen, der gleichfalls Ausgegrenzten konfrontiert. Ausgegrenzter,
deren Frust sich in rechten Gewaltorgien entlädt. Die Jugendlichen werden Opfer
dieser brutalen „neuen Welt“. Sie werden lebensbedrohend zusammengeschlagen. Der
eine scheitert als Boxer, wird straffällig, stellt sich selbst der Polizei. Der
andere stirbt einen schrecklichen Tod an den Drogen, die der „Freund“ ihm
beschafft.
Dani, der von der Liebe zu seiner schönen Schulfreundin
träumt, muss miterleben, wie das Mädchen gleichfalls gänzlich auf die schiefe
Bahn gerät, auf rechte Gewalttäter hereinfällt, missbraucht wird. Und dabei
hatte sich doch gerade sie als Schülerin für den Sozialismus begeistert
eingesetzt …
Keiner weiß, wie es weitergehen soll …
Der Film zeichnet in eindrucksvollen Szenen ein auswegloses,
ein schlimmes, ein bedrohliches Bild. Und er zeigt in Rückblenden aber auch, was
die Kinder zu DDR-Zeiten gelernt haben.
Wie den jungen Menschen sozialistische Werte vermittelt worden sind – die sich
dann aber eben als Trugbilder erwiesen haben. Weil die realsozialistische
Gesellschaft gescheitert ist. Das den Kindern seinerzeit Beigebrachte hat viele
nicht in die Lage versetzen können, mit den Verunsicherungen und Unwägbarkeiten
der abrupt über sie kommenden Ordnung der West-Gesellschaft klar zukommen.
Dieser Film hält den Akteuren der deutschen
Wiedervereinigung, den Akteuren des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik und
der Jetzt-Gesellschaft unerbittlich den Spiegel vor.
Er konfrontiert die Zuschauer mit den Auswirkungen
politischer Entscheidungen und Abläufe, die ganz real viele Menschen zu Verlierern gemacht haben.
Natürlich sind nicht alle Lebenswege im vereinten
Deutschland so tragisch verlaufen, wie in diesem Film dargestellt. Und so
manches rückblickend auf den DDR-Alltag Geschilderte ist gewiss überspitzt.
Aber: Ich meine, es hilft überhaupt nicht weiter, den Filmemachern etwa deshalb Vorwürfe machen zu wollen. Es
geht nicht an, denen, die diesen Film so gemacht haben vorzuwerfen, dass sie
ein gnadenlos-erschütterndes Kunstwerk geschaffen haben.
Denn die Wahrheit über die Folgen der historischen Abläufe ist
nun mal allzu oft nicht identisch mit den gängigen Hochglanzphotos und den euphorischen
Reden zu historischen Jubiläumsfeiern 2014/2015. Im Gegensatz zu diesen
gestellten Veranstaltungen ist dieser Film lebensnah, ehrlich und provokant,
und zugleich aber auch hoffnungsvoll.
Wer sollte sich nun so einen Film anschauen? Wem kann dieser
schonungslos offene und entlarvende Film über das traurige Schicksal
hoffnungsvoll angetretener junger Menschen im Strudel der jüngsten historischen
Abläufe Wichtiges vermitteln?
Den jungen Leuten von heute führt dieser Film vor Augen, wie
wichtig es ist, sich nicht einfach treiben zu lassen. Sein Schicksal nicht irgendeinem
vielleicht eintretenden glücklichen Zufall oder der „Hilfe“ durch irgendwelche fragwürdigen
Gestalten zu überlassen. Vor allem wird eindringlich vor den Gefahren gewarnt,
die aus der Verbreitung rechten, neofaschistischen Gedankenguts erwachsen.
Diesen Film müssen sich in erster Linie diejenigen ansehen,
die – an welchem Platz und auf welche Weise auch immer – Verantwortung tragen
dafür, dass die verheißungsvollen Auf- und Umbrüche 1989 im Ergebnis zu viele
ehrliche und strebsame Menschen in Ostdeutschland zu Verlierern gemacht haben.
Das sind so manche derjenigen, die seinerzeit aus den Alt-Bundesländern nach
Osten aufgebrochen sind, um die Abwicklungspläne der „Treuhandanstalt“ zu
realisieren. Die in Ostdeutschland Betriebe geschlossen und Tausende in die
Arbeitslosigkeit verfrachtet haben. Die völlig unzureichend den weiteren Weg
der Heranwachsenden in eine diesen erst einmal völlig fremde Ordnung geebnet
haben.
Dieser Film hat aber auch denjenigen sehr viel zu sagen, die
seinerzeit in der DDR Verantwortung
getragen haben. Und denen, die sich dann zu „Wende“-Zeiten politisch engagiert
haben. Er hat insbesondere denjenigen viel zu sagen, die behaupten, sie hätten ja
zu DDR-Zeiten und dann beim Vollzug des Beitritts „alles richtig gemacht“! Man
kann nur sagen: Schaut Euch diesen Film an! Und dann reden wir weiter!
Angesichts der (auch) in diesem Film dargestellten tragische
Abläufe kann nicht kommentarlos hingenommen werden, wenn seinerzeit auf
DDR-Seite zuständige Akteure nachträglich die Verantwortung fürs Scheitern der
realsozialistischen Anstrengungen, für die Art und Weise des Vollzugs des
Beitritts zur Bundesrepublik und dann eben auch für die danach folgenden
Entwicklungen einfach ganz und gar „anderen“
in die Schuhe schieben wollen.
Genauso wie es ja m. E. auch verantwortungslos ist, wenn rückblickende
„DDR-Erinnerung“ von so manchen Leuten einfach begrenzt wird auf die nachträgliche
Schilderung der seinerzeit erarbeiteten Errungenschaften, allein auf die
schönen Seiten des Alltags hunderttausender ehrlich arbeitender Werktätiger im
Sozialismus. Diese Errungenschaften sind doch aber – auch und vor allem dem
Unvermögen verantwortlicher Akteure auf den verschiedenen Ebenen geschuldet – verloren gegangen, untergegangen, regelrecht
verspielt worden.
Der Film veranschaulicht am Schicksal von Jugendlichen, die
ihre Kindheit in der DDR verlebt haben, eindrucksvoll, was dann falsch gelaufen
ist beim Weg in die deutsche Einheit. Wie es zu Ausgrenzung,
Langzeitarbeitslosigkeit, Armut, Fremdenfeindlichkeit und rechter Gewalt gekommen
ist. Und dieser Film ist zugleich mehr als zwanzig Jahre später brand-aktuell. Das
ist kein provinzieller Film! Das ist – auch aus meiner Sicht tatsächlich, wie
gesagt wird – „Weltklassekino“. Der Film ist dringende Mahnung, nicht nur
anstehende Jubiläen enthusiastisch zu feiern, sondern sich der ganzen geschichtlichen
Wahrheit zu stellen. Das erfordert zu allererst, auch aus dem Schicksal der
Benachteiligten und Verlierer historischer Entwicklungen die richtigen Lehren
zu ziehen.
März 2015