Rechtstheorie



Neue Anforderungen an Rechtsphilosophie und
Rechtstheorie
- ein Beitrag zum Karl-Marx-Jubiläum 2018 -

Gerwin Udke

Das Scheitern des Realsozialismus und die weltweite Zuspitzung der Gegensätze in Folge der zunehmenden expansionistischen Bestrebungen des Spätkapitalismus haben nicht zuletzt auch Konsequenzen für weiteres rechtsphilosophisches und -theoretisches Nachdenken.
Diese Umbrüche, die im zurückliegenden Vierteljahrhundert unaufhaltsam voranschreitenden Prozesse des Klimawandels, der Globalisierung und der Digitalisierung zwingen, auch viele „traditionelle“ Recht und Gerechtigkeit betreffende Fragestellungen neu zu durchdenken.

Neben einer Vielzahl anderer Veröffentlichungen ist in diesem Zusammenhang auch das 2016 erschienene Buch von
Hermann Klenner interessant:
RECHT, RECHTSSTAAT UND GERECHTIGKEIT
Eine Einführung, Köln 2016.
Diese Veröffentlichung fasst souverän vielfältig anderweitig ausgearbeitete Erkenntnisse des international anerkannten DDR-Rechtsphilosophen zusammen. Klenner`s Darlegung materialistisch-dialektischer Erkenntnisse zu grundlegenden Rechtskategorien mit Bezug auf die diesbezüglichen Aussagen der wichtigsten rechtsphilosophischen Denkschulen ist profund und überzeugend.
Und sie beweist erneut die Dringlichkeit, in verunsicherten Zeiten fundierte rechtsphilosophische Eckpunkte unter Einbeziehung von Erkenntnissen von K. Marx und F. Engels zu formulieren.

1.
Auf dem IVR-Kongress in Göttingen 1991 hatte Klenner in dem Vortrag zum Thema: „Was bleibt von der marxistischen Rechtsphilosophie?“ erste Überlegungen zur „Marxschen Rechtsphilosophie“ nach dem Untergang des Realsozialismus vorgetragen. Dort hat er u. a. auch (selbst)kritisch eingestanden, dass vormals formulierte Feststellungen, die marxistisch-leninistische Rechtstheorie ermögliche als einzige eine wissenschaftliche Rechtsbetrachtung, angesichts der aktuellen Entwicklungen im Realsozialismus so nicht aufrechterhalten werden können.
(15. Weltkongreß für Rechts- und Sozialphilosophie, Plenarreferate,
Göttingen 18. - 24. August 1991, S. 113 – 131; s. auch: ARSP 1992, Beiheft 50, S. 11 - 19)

In den Anhang der 2016 gegenüber der Erstfassung erweiterten und ergänzten „Einführung“ hat Klenner die bedeutsame „Marx/Engels-Anthologie zur Natur des Rechts“ aufgenommen. (S. 109 – 142)
In den Vorbemerkungen zu der in einigen Punkten gekürzten M./E.-Anthologie verweist er zutreffend darauf, dass „weder Marx noch Engels eine in sich geschlossene, geschweige denn eine abgeschlossene Rechtsphilosophie oder -theorie hinterlassen (haben).“ (S. 110)
Dessen ungeachtet liefert er mit dieser übersichtlichen Zusammenstellung der relevanten Texte von M. und E. in ihrer historischen Abfolge in einer aktuellen juristischen Grundlagen-veröffentlichung in deutscher Sprache eine exzellente Handreichung für dialektisch-materialistische Herangehensweisen an Fragen von Gerechtigkeit und Recht.

Die Erkenntnisse des Marxismus über die historisch-materielle Bedingtheit des Rechts, über seinen Interessen- und Klassencharakter usw. bauen auf dem vorsozialistischen Rechtsdenken auf und sie führen dieses in wesentlichen Punkten weiter. Sie bieten – weiter gedacht – die Möglichkeit, neue Ansätze zu formulieren für das Hinausgehen über eine vom Kapital beherrschte Ordnung, für einen neuen, einen anderen, einen erfolgreicheren Sozialismus.
Dieses Gedankengebäude enthält auch – im historischen Kontext betrachtet – gewichtige Maßstäbe, von denen aus die zwischenzeitlich untergegangene Rechtsordnung der DDR zu bewerten ist. Daraus leitet sich die Messlatte ab für die dringend erforderliche Einordnung der Rechtsordnung des Realsozialismus und auch der rechtsphilosophischen Literatur in die Geschichte der Rechtsentwicklung auf deutschem und europäischem Boden insgesamt.

2.
Im Osten Deutschlands ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Versuch unternommen worden, eine völlig neue sozialistische Staats- und Rechtsordnung zu errichten. Mit großen Anstrengungen sind grundlegende Veränderungen eingeleitet worden.
Einen ersten Versuch ostdeutscher Autoren für eine umfassende Bilanz zum DDR-Recht im Rückblick nach dem Untergang der DDR enthält der Sammelband:
„Die Rechtsordnung der DDR, Anspruch und Wirklichkeit“
(Baden-Baden, 1995).

In der der o. g. Einführung von 2016 deutet Klenner im Abschnitt „Rechtsstaatliches“ auch kurz seine Position zur Rolle des Rechts beim Scheitern des Realsozialismus an:
„Das Ende der DDR war gewiss nicht durch deren Rechtsordnung verursacht.“ Aber es „ist doch nicht zu übersehen, dass es begünstigende Bedingungen für den Untergang des frühsozialistischen Gesellschaftssystems in der Rechtsordnung der DDR gegeben hat.“
Sie, „die Rechtsordnung der DDR … ist mitverantwortlich für das Scheitern des ersten Versuchs auf deutschem Boden, eine zum Realkapitalismus alternative Gesellschaftsordnung zu entwickeln“
– „weil sie nicht demokratisch-sozialistisch genug war.“ (S. 73)

Im Gegensatz und als Alternative zur bürgerlichen Rechtsphilosophie ist die sozialistische Rechtstheorie begründet worden. Diese neue, marxistisch-leninistische Rechtstheorie ist offiziell von allen vorsozialistischen Rechtspositionen abgegrenzt worden. Juristische Grundlagen-veröffentlichungen in der DDR gingen – wie in der Sowjetunion – davon aus, dass sich die bürgerliche Rechtsphilosophie wie die Kapitalordnung insgesamt in einer tiefen Krise befindet. Demgegenüber entfalte sich mit dem Voranschreiten der sozialistischen Gesellschaft die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie.

Klenner
hat 1974 in einem Grundsatzartikel in der „Neuen Justiz“
„Zur Gegenwartskrise bürgerlicher Rechtsphilosophie“
(NJ 19/1974, S. 589 – 595) zutreffend veranschaulicht, dass es bei der bürgerlichen Rechtsphilosophie „letztlich immer um dasselbe geht, nämlich: über das Recht optimale Verwertungsbedingungen des Kapitals nach innen und außen zu schaffen“ (S. 589).
Er schlussfolgerte: Ein Ausweg aus der Krise der bürgerlichen Rechtsphilosophie kann sich nur eröffnen, wenn „sich die Rechtsphilosophie an der Beseitigung der Gesellschaftskrise beteiligt.“
(S. 595)
Und in dem Buch zu diesem Thema „Rechtsphilosophie in der Krise“ (Berlin 1976) hat er formuliert:
„Die marxistisch-leninistische Rechtstheorie ist … der Antipode jeder bürgerlichen Rechtsphilosophie, so wie das Proletariat der Antipode der Bourgeoisie ist.“ Er hat betont, dass „die marxistischen Rechtstheoretiker … ihre Theorie als bewußten Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse (gestalten).“ Darauf fuße „ihr konsequent wissenschaftlicher Charakter.“ Sie ist „in den dialektischen und historischen Materialismus integrierte( ) Rechtstheorie“.
(a. a. O., S. 20ff., Hvh. im Original)

Die an den Erkenntnissen von Marx und Engels orientierte Rechtstheorie hatte zum einen auf die bürgerliche Gesellschaft bezogen die kapitalbedingten Grenzen und Ohnmächtigkeiten beim Kampf um Recht und Gerechtigkeit zu benennen. Zum anderen bestand ihr Auftrag in Lehre und Forschung darin – und das war ihre Hauptverpflichtung – einen grundlegenden Beitrag zum Aufbau und zur Entfaltung der sozialistischen Rechtsordnung zu leisten.
Der Weg der realsozialistischen Rechtsphilosophie und -theorie als juristische Disziplinen war eingebettet in den Weg der Rechtswissenschaft und damit zugleich in das Schicksal der Staats- und Rechtsordnung in der DDR insgesamt. Mit dem kapitulationsartig vollzogenen Beitritt der DDR zur BRD ist auch Schritt für Schritt die gesamte DDR-Rechtsordnung liquidiert worden.
Es wäre aber falsch daraus zu schlussfolgern, dass mit dem Untergang des vormals eigenständigen realsozialistischen Staates DDR zur BRD sich auch sämtliche Erkenntnisse und alle praktischen Ansätze zur Gestaltung einer sozialistischen Rechtsordnung einfach vollständig „in Luft aufgelöst“ hätten. Dass da nichts verbleiben würde, was in die historische Bilanz der weltweiten Kämpfe um Gerechtigkeit und Recht eingeht. Vor allem ist der Schluss falsch, die Aufgaben einer an den Erkenntnissen von Marx und Engels orientierten Rechtsphilosophie und -theorie hätten sich insgesamt erledigt.

Aus der erzwungenen Rückwärts-“Wende“ zum Realkapitalismus, aus dem Untergang des Realsozialismus und daran gekoppelt auch wichtiger Teile einer auf die DDR-Realität bezogenen Rechtslehre erwächst zwingend die Verpflichtung, wieder das ursprüngliche marxistische Gedankengut über Gerechtigkeit und Recht ins Zentrum zu rücken und von dort aus weiterzudenken.
Die seinerzeit formulierten Grundaussagen müssen auf die nunmehr entstandene neue historische Situation nach dem Ende des Realsozialismus, unter den Bedingungen von Globalisierung und flächendeckender Digitalisierung aller wesentlichen ökonomischen und sozialen Prozesse angewendet werden. 
Ausgehend von dem Grundsatz „zurück zu Marx“ sind die Lehren zu ziehen aus dem, was – oft unter ausdrücklicher formaler Berufung  offizieller Stellen auf Marx, Engels und Lenin – falsch gelaufen ist bei der Konstituierung einer realsozialistischen Rechtsordnung. Was sich nicht hat behaupten können gegen die Übermacht der Kapitalordnung. 
U.-J. Heuer hat konstatiert: Im Rückblick ist ein „kritischer Umgang mit der Vergangenheit“ angeraten. Es müssen auch die eigenen Fehler, Versäumnisse und „auch Feigheiten“ benannt werden.
Auch die erst Mitte der 1980er Jahre aufkommenden Debatten zur Liberalisierung und konsequenteren Demokratisierung, für einen erneuerten Sozialismus in der DDR und die wenigen Ansätze in der juristischen Literatur in dieser Richtung waren ja weder geeignet, dem aggressiven Druck des Westens Paroli zu bieten, noch die rasanten Auflösungserscheinungen aufzuhalten.

Klenner hat in der Vorbemerkung zu der in den Anhang der „Einführung“ aufgenommenen „Marx/Engels-Anthologie zur Natur des Rechts“ zugestanden: Es „dürfte … nicht verwundern“, dass „angesichts der Zurückgeworfenheit unserer Gesellschaft in den Realkapitalismus“ „viele Passagen“ über Gerechtigkeit und Recht von Marx und Engels „provozierend wirken“. (S. 110)
In den vorhergehenden Texten der Einführung zu den von ihm ausgewählten juristischen Grundbegriffen hat er aber vorgeführt, wie von Marx/Engels inspiriertes dialektisch-materialistisch-historisches Herangehen an die Fragen von Gerechtigkeit und Recht weitergehende Erkenntnisse vermitteln kann, die schließlich über den Rahmen traditioneller bürgerlicher Rechtsphilosophie hinausführen.

3. 
Auch eine Reihe westdeutscher Autoren sprechen ausdrücklich von der „marxistischen Rechtstheorie“ – im Unterschied zur bürgerlichen Rechtstheorie; z. B. Norbert Reich, Ralf Dreier, Hubert Rottleuthner, Wolf Paul, Gerhard Dilcher. Siehe hierzu zum Beispiel:
Norbert Reich (Hg.), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1972.
R. Dreier und andere Autoren sprechen direkt von einer „Zweiteilung“ der Rechtstheorie in „marxistische und nichtmarxistische Theorien“
(R. Dreier, Recht – Moral – Ideologie, a. a. O., S. 21).

4. 
Nicht nur die Führungskräfte von Partei und Regierung, die parteioffiziellen Akteure der DDR-Gesellschaftswissenschaften insgesamt, sondern auch Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie und der Staats- und Rechtstheorie tätig waren, haben in ihrer realitätsfernen Abgehobenheit nicht vorhergesehen, dass der weitere Vormarsch des Sozialismus in wenigen Jahren abrupt abgebrochen werden könnte. Dass der Sozialismus der aggressiven Übermacht des krisengeschüttelten Spätkapitalismus erliegen würde.
Es gab keine konzeptionellen Vorstellungen für einen möglicherweise eintretenden Ernstfall, der die Weiterexistenz des Realsozialismus überhaupt in Frage stellen könnte! Diesbezüglich hat sich – wie könnte man es anders ausdrücken? – eine doch erhebliche Distanz des Nachdenkens der Theoretiker zu den gesellschaftlichen Realprozessen im Großen und im Kleinen offenbart. 
                                        
5. 
Die Geisteswissenschaften der westlichen Welt – und darin eingeordnet nicht lediglich an beliebiger Stelle die Rechtsphilosophie – sind angetreten, einen Beitrag zur Lösung bedrückender Menschheitsfragen zu leisten. Aber auch sie waren letztlich außerstande, die erneut nach dem Ende des Kalten Krieges heraufziehenden gewaltigen Erschütterungen und Umbrüche in der Welt zu prognostizieren. Geschweige denn daran mitzuwirken, diese aufzuhalten.
Die ach so moderne, hoch-effektive und profitable „westliche Welt“, einschließlich ihrer intellektuellen Eliten, steht nunmehr weitgehend ohnmächtig und sprachlos dem Ansturm der in ihrer Existenz bedrohten Unterdrückten und Ausgeplünderten der Welt von Süd nach Nord und von Ost nach West gegenüber.
Der nunmehr wiederum weltweit ungebremst herrschende und zugleich tiefgreifend krisengeschüttelte Spätkapitalismus bedroht existentiell das Ringen der Völker um Frieden und Gerechtigkeit. „Die ungeheuren, ungeheuerlichsten Antagonismen in der Weltgesellschaft von heute“
(H. Klenner, Recht, Rechtsstaat, …, a. a. O., S. 99), die extreme Zuspitzung der Gegensätze in der Welt zwischen Arm und Reich, zwischen prosperierenden und benachteiligten Völkern, die weltweite Bedrohung des Friedens, Globalisierung und Digitalisierung werfen vielschichtige neue ökonomische, ökologische, soziale, politische und kulturelle Fragen auf.

6.
Unter den Bedingungen des nunmehr wieder weltweit rigoros herrschenden und zugleich krisengeschüttelten Spätkapitalismus, im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung, ergeben sich für die verschiedenen Ebenen des Rechtsdenkens und dabei auch zuvörderst für Rechtsphilosophie und -theorie völlig neuartige Praxis-Konstellationen.
Im Großen wie im Kleinen, im internationalen und im nationalen Rahmen müssen sie sich viel unmittelbarer den die Völker und die Menschen im alltäglichen Ringen um Gleichberechtigung und Freiheit bewegenden Problemen zuwenden. Es kann nicht angehen, dass auf der einen Seite immer wieder hunderte Seiten mit wohlklingenden Texten über Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie beschrieben und als Bücher verlegt werden – auf der anderen Seite aber Armut, Elend und Not von Millionen Menschen ständig weiter wachsen.

- In dem wichtigen Sammelband „Neue Theorien des Rechts“ haben Sonja Buckel und die anderen Autoren eindrucksvoll die neu anstehenden Problemstellungen für Recht und Rechtswissenschaft herausgearbeitet:
Sonja Buckel, Ralph Christensen, Andreas Fischer-Lescano - Hrsg. -,
Neue Theorien des Rechts, Stuttgart UTB 2006.
Sie fordern mit Verweis auf den rapiden Wandel der vom Recht erfassten Gesellschaftsphänomene Neuansätze der juristischen Grundlagendisziplinen. Die Theorie des Rechts muss der globalen Verflechtung der ökonomischen und politischen Prozesse, den „inter-, supra- und transnationalen“ Entwicklungen, der Netzwerk- und Informationsgesellschaft usw. Rechnung tragen. Mit Bezug auf die modernen Erkenntnisse der angrenzenden nichtjuristischen Disziplinen, zum Beispiel der System- und Sprachtheorie, der Psychoanalyse, auf Foucault, Habermas, Luhmann usw., geht es um Blickerweiterung.
Vor allem um das Heraustreten aus der traditionell isolierten Betrachtung struktureller und methodischer Probleme des Rechtssystems aus nationalstaatlicher Sichtweise.


- In diesem Kontext weitet Klenner den Blick noch entschiedener ins Grundsätzliche. In der o. g. Einführung über
„Recht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit“ heißt es:
„… zwingt nicht in der Weltgesellschaft der Gegenwart zumindest das Kriegsgeschehen, in das nahezu alle Staaten aktiv und/oder passiv verwickelt sind, die darüber Nachdenkenden zu der Einsicht, dass wir alle bloß Objekt der Mächtigen bleiben, wenn wir nicht zumindest versuchen, handelndes Subjekt wenigstens dadurch zu werden, dass wir uns nicht der Frage nach den Ursachen von Terror und Krieg, von Armut und Reichtum, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Flucht und Vertreibung verweigern? Das ist wenig genug. Aber mehr, als viele wissen.“
Er leitet aus dieser Fragestellung die grundsätzliche Forderung nach einer Herrschaftsform ab, die auf „Vergesellschaftung des Staates, seiner politischen Macht“, wie auch auf „Vergesellschaftung der wirtschaftlichen und medialen Macht“ orientiert. „Solch eine Frage ernst zu nehmen, heißt dem Gerechtigkeitsproblem eine Sichtweise zu eröffnen, die schließlich auf die Widersprüche innerhalb der Macht/Ohnmacht-Struktur der Gegenwartsgesellschaft als auf unsere Hoffnungen setzt.“
(S. 101/102)

7. 
Seit dem Ende des Kalten Krieges vollzieht sich ein tiefgreifender Epochenwandel. Immer wieder vielerorts aufflammende gewaltsame Erschütterungen und der Klimawandel gefährden auf Dauer den friedlichen Fortgang der Gesellschaftsprozesse, ja die Zukunft der Menschheit. Auf der anderen Seite eröffnen Globalisierung und Digitalisierung neue Entwicklungsperspektiven. Aber zugleich verursachen auch sie existentielle Gefährdungen für die Welt.

In der zurückliegenden Epoche haben das Recht und die Rechtsordnungen der Staaten und Völker wesentlich dazu beigetragen, immer wieder irgendwie tragfähige Kompromisse zu finden zwischen den ökonomisch und politisch Herrschenden und der Bevölkerung.
Sie haben geholfen, trotz aller bestehenden Unterschiede, Konflikte und Niederlagen, den Ausgleich herzustellen zwischen Machtbestrebungen und den „Werten der westlichen Welt“.
Der Epochenwandel, das Aufbrechen vieler neuartiger Konflikte stellen aber nunmehr in allen Lebensbereichen die Möglichkeiten, tragfähige Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Interessenkonstellationen herzustellen, immer mehr in Frage. Das Recht, der bürgerliche Rechtsstaat, die von diesem geschaffenen Institutionen zur Wahrung von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit stoßen immer mehr an die Grenzen ihrer Wirksamkeit – national und international.

Bisherige Erkenntnisse zum Begriff und Wesen des Rechts, zum Recht als Friedens-, Freiheits- und Werteordnung, zu den Bürger- und Menschenrechten usw. geraten auf den Prüfstand.
Rechtsphilosophie und -theorie sind aufgerufen, einen Beitrag zu leisten zur Suche nach Alternativen für einen positiven gesellschaftlichen Wandel. Vor allem müssen sie die grundlegenden Problemstellungen, die neuen Widersprüche und Konflikte benennen, die zur Bewahrung des Rechts- und Sozialstaates unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung zu bewältigen sind. Es geht um fundierte Orientierungen für eine neue Rechtswirklichkeit, in der der Frieden, das Menschliche, das Soziale und Gerechte immer größeren Gefährdungen ausgesetzt sind. Um Orientierungen dahingehend, wie der zunehmenden Ohnmacht des Rechts wirksam begegnet werden kann.

8. 
Globalisierung und Migration – neue Konstellationen für den Kampf um Gerechtigkeit.
Die ungebremst voranschreitende Globalisierung aller wesentlichen ökonomischen, technischen und sozialkulturellen Prozesse setzt gewaltige produktive Kräfte frei, die zum Wohl der Menschheit erschlossen werden können. Mit der Internationalisierung der Wirtschaft schreitet aber zugleich – wie bereits von K. Marx seinerzeit prognostiziert – unaufhaltsam die globale Ausbeutung und Unterdrückung voran. Weltweit verschärfen sich die Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen den unterentwickelten, ausgebeuteten, in ihrer Existenz bedrohten Völkern und den über die Grenzen der Kontinente hinweg agierenden Großmächten.

Die ökonomische, technische, kulturelle und politische Globalisierung sowie die damit einher gehende Verschärfung der Ausbeutung lösen gewaltige internationale Migrationsprozesse aus – über die traditionellen Grenzen der Länder und Erdteile hinweg. Auf der Suche nach qualifizierten Arbeitsmöglichkeiten und Lebensperspektiven wandern hunderttausende aufstrebende junge Menschen aus den unterentwickelten Ländern in die Industrie- und Dienstleistungsstaaten.
Und die meisten dieser Migranten aus der Dritten Welt werden … in Lager gepfercht. Oder sie vagabundieren arbeits- und obdachlos auf den Straßen und über Land. Sie werden – wenn überhaupt auf irgendeine Weise `human` – durchweg lediglich als „Menschen zweiter Klasse“ behandelt.
Es eskaliert der brutale Kampf der verschiedenen Gruppierungen der sozial Benachteiligten in der Welt untereinander um die Erringung von Anteilen an Besserstellung.


Die die Ländergrenzen überschreitenden Migrantenströme können von den bisher geltenden Regeln des internationalen Rechts und zugleich von den im Einzelnen unterschiedlichen nationalen Vorschriften der Aufnahmeländer nicht unter Kontrolle gebracht werden.
Das Völkerrecht und die nationalen Rechtsordnungen erweisen sich in ihrer bisherigen Struktur zunehmend als weitgehend wirkungslos.
Und: Auch in vielen rechtsphilosophischen Veröffentlichungen findet sich bislang wenig Substantielles, wie darauf angemessen reagiert werden könnte.

9.
Digitalisierung und Grundrechtsschutz
K. Marx und F. Engels haben Mitte des 19. Jahrhunderts die Mechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft aufgedeckt und daraus Schlüsse für die Notwendigkeit grundlegender revolutionärer Veränderungen der Gesellschaft abgeleitet. Das war das Zeitalter der Industriegesellschaft, des Aufkommens der Arbeiterklasse als gewaltiger Gegenkraft gegen die Allmacht des Kapitals.
Mechanisierung, Industrialisierung und Automatisierung – das waren die drei grundlegenden Schritte der Revolutionierung der Arbeit in der Frühphase der Kapitalordnung.


Nachdem das Zeitalter der weltweiten Industrialisierung zu Ende gegangen ist, schreitet in rasantem Tempo das Zeitalter der Digitalisierung voran. „Industrie 4.0“ heißt das Schlagwort für den sich aktuell vollziehenden tiefgreifenden Wandel in Produktion, Technik und Dienstleistung.
Viele der seinerzeit von Marx und Engels aufgedeckten Widersprüche der kapitalistischen Marktwirtschaft wirken heute unter den Bedingungen des digitalen Kapitalismus in völlig neuen Dimensionen. Die Digitalisierung der Ökonomie wird de facto immer mehr zum Zentralprozess des Epochenwandels, der alle traditionellen Abläufe und so auch den nationalen und globalen Kampf um mehr Gerechtigkeit bestimmt.
„Wir erleben mit der digitalen Revolution eine Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten, wie sie in der bisherigen Geschichte der Menschheit vielleicht nie zuvor gegeben war.“
(Gerrit Forst, Persönlichkeits- und Datenschutz im Internet, NJW, djt, RECHT mitgestalten, S. 42)


Die andere Seite der Problematik: Digitale Hochtechnologien werden entwickelt und genutzt, um egoistische monopolistische Interessen durchzusetzen. Mittels Videoüberwachung und anderer digitaler Mittel wird eine Unmenge von Daten erfasst und rigoros für die Profitmaximierung, für die Machtausübung und flächendeckende Überwachung genutzt. Gezielte digitale Angriffe auf strategische ökonomische, technologische und politische Prozesse werden immer weniger beherrschbar. Damit ziehen unkalkulierbare, alle traditionellen Begrenzungen überschreitende Gefahren herauf.

Es drängt sich die Frage auf, „welche Bedeutung und Durchsetzungskraft die Grundrechte in Deutschland und Europa in einer digitalen und globalisierten Gesellschaft überhaupt noch haben und noch haben können.“
(H.-J. Papier, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz in der digitalen Gesellschaft, NJW 42/2017, S. 3025)
Die Aufgabe besteht darin zu verhindern, dass mit dem Voranschreiten und Überhandnehmen des digitalen Fortschritts die Wirkungsmöglichkeiten des Rechts immer weiter eingegrenzt werden.
Es geht gerade ums Gegenteil: Im Zeitalter der Digitalisierung wächst der Stellenwert des Rechts zur Wahrung der Menschen-und Bürgerrechte in den kommunikativen Beziehungen. Es wächst seine Rolle zur Begrenzung der Risiken, die die Digitalisierung nahezu zwangsläufig mit sich bringt. Es wächst seine Rolle zur Bewahrung und zum Ausbau des Sozialen in der digital gesteuerten kapitalistischen Marktwirtschaft.
Die zentrale Frage im Kampf gegen den digitalisierten Kapitalismus lautet: Wie können die Möglichkeiten des technologischen Fortschritts und des digitalen Rechtsverkehrs noch wirksamer zum Ausbau des Schutzes der Privatheit und generell der Persönlichkeitsrechte der Bürger genutzt werden?
Im digitalen Zeitalter erlangt der Kampf um die Wahrung der Menschenwürde und der Bürgerrechte auf neue Weise höchste Priorität. Es ist wohl zutreffend: Zur Sicherung der Freiheit der Persönlichkeit auf der einen und von Ordnung und Sicherheit auf der anderen Seite unter den Bedingungen des Einsatzes digitaler an Stelle analoger Instrumente muss sich das Recht in vielen Punkten „neu erfinden“
(Boehme-Neßler, a. a. O., S. 3037).

Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs ermöglicht in der Perspektive in erheblichem Umfang Einsparung personaler Ressourcen sowie Kostensenkung. Damit sind aber auch völlig neue Anforderungen an das Recht verbunden. Es werden völlig neue juristische Instrumente zur Sicherung der subjektiven Rechte erforderlich.
Konkretheit, Eindeutigkeit, Klarheit und Schärfe – das waren und sind bewährte Mittel des Rechts zur Verhaltenssteuerung. Diese dürfen nicht durch den Einsatz von Informationstechnologien (IT-Recht) in Frage gestellt oder wirkungslos gemacht werden.
Es ergeben sich neue Anforderungen an das materielle und an das Prozess-Recht, an die Rechtsethik, an die Rechts- und Verfahrenskultur, an die juristische Methodik usw. Und es ergeben sich vor allem neue Erfordernisse für zuverlässige Kontrollsysteme – um dem weiteren Abbau der Rechtsstaatlichkeit, dem Ausufern zum totalen Überwachungsstaat entgegen treten zu können!
 
                                                        ***
K. Marx und F. Engels haben erkannt, welch große Bedeutung dem Recht als allgemein verbindlichen Verhaltensmaßstab im Kampf für eine humane und gerechte Welt zukommt. Im Sinne dieser Erkenntnisse müssen Rechtsphilosophie und -theorie in der vom digitalen Kapitalismus beherrschten Welt offensiv der bedrohlich heraufziehenden Gefahr zunehmender Ohnmacht des Rechts entgegenwirken.
Sie sind aufgerufen, unter den Bedingungen der fortschreitenden Digitalisierung und Globalisierung der ökonomischen, technischen, politischen und kulturellen Prozesse dazu beitragen, die Rolle des Rechts zu stärken zur Bewahrung und zum Ausbau des Sozialen, des Demokratischen und Gerechten, zur Wahrung der Menschenrechte in der Welt.


Februar 2018
- siehe dazu weiter: G. U. Anmerkungen zur aktuellen Rechtstheorie-Debatte,
Berlin 2017; sowie: Zweiter Teil dieses Textes, Berlin 2018.