Überleben

Überleben im Umbruch

Gerwin Udke

Dieses Leitmotiv steht über einer hochaktuellen Veranstaltungsreihe des Maxim-Gorki-Theaters Berlin. Von Januar bis Juni 2010 stellt das Gorki Studio die Ergebnisse eines auf drei Jahre angelegten Forschungsprojekts unter dem Titel „Social Capital im Umbruch europäischer Gesellschaften – Communities, Familien, Generationen“ vor. Es geht darum aufzuzeigen, welche Lehren sich aus dem Schicksal einer schrumpfenden Stadt im Norden des Landes Brandenburg – Wittenberge – für die moderne Gesellschaft ableiten können. Und das nicht etwa abstrakt-theoretisch, sondern ganz real, hautnah und brisant. Am Anfang der Reihe stand die Uraufführung des Theaterstücks von Thomas Freyer „IM RÜCKEN DIE STADT“. 

„Wofür hast Du gearbeitet?“ fragt die Studentin Ina, die auf Anstandsbesuch zum Geburtstag des Großvaters aus der Metropole zu Besuch gekommen ist, die Mutter: „Für ein Land, das es nicht mehr gibt!“ Ina ist aus ihrer Heimatstadt, die weder Arbeit noch Zukunft zu bieten hat, aufgebrochen auf der Suche, woanders ihre Lebenspläne verwirklichen zu können.  Aber hier in der Heimatstadt stürmen all die Fragen wieder auf sie ein, vor denen sie weggelaufen ist. Die alten Geschichten dieser Stadt, der die Zukunft genommen worden ist, lassen sie nicht los. Brennen ihr auf der Seele.
Was waren das für Pflichten, für Arbeiten, denen der Großvater und auch der Vater, der gleich nach der Wende verstorben ist,  hier nachgegangen sind? Damals, in diesem Land, das es nicht mehr gibt. Die Betriebe, das Kombinat, die das Leben der Stadt und ihrer Menschen bestimmt haben, gibt es nicht mehr. Die, die dort ihren Lebensinhalt hatten, sind entwurzelt. Stehen ihrem unerwarteten Schicksal sprachlos, mutlos und zugleich wütend gegenüber. Suchen nach irgendeinem neuen Sinn für ihr Dasein. Sie sind auf soviel FREIZEIT gar nicht eingestellt. Skurrile Hobbys, Hausbau, Rumquatschen und Rumspielen erweisen sich als untauglich, dem Weiterleben neuen Sinn zu geben. 

Sie stehen auch dem Riesen-Freizeitpark-Projekt von Heiko skeptisch gegenüber. Wollen da nicht mitmachen. Auch Inas Exfreund Daniel hält sich da raus. Sucht verzweifelt, irgendwo anders Sinn für sein gerade erst begonnenes Erwachsenenleben zu finden. Heikos Riesen-Projekt geht ja dann auch trotz aller herbei geredeten Euphorie „aus technischen Gründen“ – wie es heißt – in die Hose. Wiederum viele enttäuschte Hoffnungen. ...
Daniel, dem Heiko seinen letzten Rückzugsraum zerstört, übermalt das Panorama seiner bleiern sonnenüberfluteten Heimatstadt mit riesigen schwarzen Buchstaben: „FREIHEIT STATT FREIZEIT“. Gemeint ist: ARBEIT, ARBEITEN will er, wie auch all die anderen, die dieser Umbruch brutal aus ihrer Lebensbahn geworfen hat. 
Sie sind nicht – wie viele andere – einfach weggegangen. „Ich bleib doch!“ „Ich kann hier nicht weg!“ Aber: Angesichts der vielen, vielen ungelösten Fragen aus Vergangenheit und Jetztzeit bleibt nur die verzweifelt zweifelnde Frage von Ina: „Und was soll ich glauben?“
Was wird aus einer Stadt, die durch Stilllegung, Abwanderung und Leerstand um ihre Zukunft betrogen wird? Was geschieht mit den sozialen Beziehungen ihrer Bewohner? 
Welche Perspektiven eröffnen sich für die jungen Leute, die nicht einfach aufgeben und abwandern? Die, wie Ina, ihre Lebensträume dennoch verwirklichen wollen. 

Was wurde falsch gemacht? Was bleibt vergeblich? Was hat vielleicht doch wieder Sinn?
Inas Mutter schreit es heraus: „Das ist doch mein Land, mein Land, ...  unser Land!“
Dem interessierten Besucher bleibt nur festzustellen: Das ist engagiertes Theater von heute, für heute, für morgen! 

Februar 2010