Freikauf

Verschweigen hilft nicht weiter!

Gerwin Udke

Anmerkungen zu:
Helmut Jenkis, „Der Freikauf von DDR-Häftlingen, Der deutsch-deutsche Menschenhandel“,
Zeitgeschichtliche Forschungen, Band 45
Duncker & Humblot, Berlin 2012, 86 Seiten

Je mehr Zeit vergeht seit dem Ende der DDR – desto wichtiger wird es festzuhalten, was damals beim realsozialistischen Aufbau alles erreicht worden ist. Dabei kann es aber nicht darum gehen, den Kindern und Enkeln heute, mit dem Verweis auf die beachtlichen realsozialistischen Erfolge ein nachträglich geschöntes Bild über diese Zeit zu vermitteln.
Die vierzig Jahre Existenz der DDR – das war eine Zeit härtester politischer und ökonomischer Auseinandersetzungen zwischen Ost und West und ganz besonders auf deutschem Boden. Das war eine Zeit anhaltender Bedrohung durch gewaltige militärische Hochrüstung beider Seiten.

Aufdeckung und Vermittlung der Wahrheit erfordert, auch das seinerzeit Nichtbewältigte und das, was falsch gemacht worden ist, anzusprechen. Sozialisten zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie begangene Fehler beim Vorwärtsgehen nicht einfach „unter den Teppich kehren“. Das war ja schließlich die entscheidende Lehre, die zu ziehen war aus den verhängnisvollen Auswirkungen des nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verordneten „großen Schweigens“ über die unter J. W. Stalin verübten schlimmen Repressalien – auch gegenüber deutschen Kommunisten und Sozialisten.

Bei der rückblickenden Bestandsaufnahme, die auch Nichtbewältigtes und Falsches der realsozialistischen Ordnung nicht ausspart, ist es u. a. unumgänglich, Stellung zu beziehen zum sog. „Freikauf von DDR-Häftlingen“ durch die Bundesrepublik. Aus meiner Sicht handelt es sich hierbei um eines der düstersten Kapitel der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte. Wie in einem Brennglas bricht sich darin die ganze Kompliziertheit, die ganze Brisanz deutsch-deutscher Geschichte im Kalten Krieg. Obwohl davon Zehntausende Menschen unmittelbar und existentiell betroffen waren und es um Milliarden ging, ist hierüber auf beiden Seiten Geheimhaltung verordnet und strikt eingehalten worden.

Umso wichtiger ist es heute, aus den seinerzeitigen Abläufen erforderliche Lehren zu ziehen. Weshalb auch die wenigen diesbezüglichen Veröffentlichungen nicht einfach übergangen werden können. So besteht Veranlassung, zu dem o. g. Buch von Helmut Jenkis (im Folgenden: Jk.) einige unumgängliche Anmerkungen zu machen.


Zu den Hintergründen


Der Autor hat sich bemüht, seine 2012 veröffentlichte Untersuchung zum „Freikauf von DDR-Häftlingen“ in die ökonomischen Zusammenhänge der 1950er bis Ende der 1980er Jahre einzuordnen. Er meint, dass es „überwiegend ökonomische Zwänge“ waren, die die DDR veranlassten, „nach DDR-Recht rechtskräftig Verurteilte gegen Devisen von der vollständigen Verbüßung der Haftstrafe zu befreien und aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu entlassen.“
(S. 17)
Eine solche Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen. Im Text bleibt aber weitgehend außen vor, welchen Stellenwert der Freikauf „politischer DDR-Häftlinge“ in der von westlicher Seite unerbittlich geführten Klassenauseinandersetzung zur Zurückdrängung des Realsozialismus hatte.

In Ostdeutschland konnten in den 1950er und 60er Jahren mit großen Anstrengungen erste beachtliche Erfolge bei der sozialistischen Umgestaltung erreicht werden. Dennoch standen anfangs viele Menschen in der DDR der neuen Ordnung skeptisch gegenüber. Es gab Unmut und auch Proteste gegen Missstände und Überforderungen. Und Zehntausende haben für sich nach Alternativen für ein besseres Leben andernorts gesucht. Durch die – vom Westen aus mit Vorsatz geschürte – Abwanderung hunderttausender DDR-Bürger nach Westdeutschland hat die DDR über Jahrzehnte schwere Verluste erlitten.

Der Autor  kommt nicht umhin, in Abschnitt III. des Textes auf die in den jetzt zugänglichen Archivmaterialien übermittelte diesbezügliche Einschätzung der DDR-Verantwortlichen zu verweisen:
„… Unter Ausnutzung der offenen Grenze hat der westdeutsche Imperialismus bis zum Jahre 1961 alle ihm zu Gebote stehenden Mittel, die wirtschaftlichen Störmaßnahmen, Abwerbung, Sabotage, Diversion, psychologische Einflüsse durch Radio und Fernsehen u. a. angewandt, um die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR zu stören. Die genaue Einschätzung des Verlustes, der durch die offenen Grenzen für unsere Volkswirtschaft entstand, ist nur schwer möglich. Nach noch nicht vollständigen Berechnungen schuldet die Bundesrepublik der DDR annähernd 120 Milliarden (Ost-)Mark. Ein großer Teil dieses gewaltigen Betrages ist der Abwanderung nach Westdeutschland und Westberlin, der Grenzgängerei, dem Schwindelkurs und dem Schmuggel nach Westberlin geschuldet. Während sich der westdeutsche Imperialismus an dieser riesenhaften Summe bereicherte, ging sie der DDR für den Aufbau der Volkswirtschaft verloren.

(Siehe: Die Wanderung über die Grenzen der DDR 1952 bis 1964, Bundesarchiv, DE2/22422, darin 0035508, Maschinenschrift, 40 Blatt, S. 2)“
Soweit das Zitat bei Jk., S. 22/23

In den Tabellen 4 bis 8 auf den Seiten 23 ff. sind die Zahlen der Abwanderung aus der DDR nach Westdeutschland und Westberlin für die Jahre von 1952 bis 1964 aufgelistet, untergliedert nach Altersgruppen, Geschlecht und Berufsgruppen. Allein für die Jahre 1952 bis 1964 ergab sich – verrechnet mit den im gleichen Zeitraum erfolgten Zuzügen nach Ostdeutschland – „ein negativer Saldo für die DDR von 2.040.130 Personen“ (S. 24). Jk. konstatiert unter Verweis auf die amtlichen Zahlen den „stärksten Wanderungsverlust“ bei den Pädagogen, den Ärzten und Zahnärzten, und dann bei Ingenieuren, Technikern und Chemikern.


Zum Umfang der Aktion


Tabelle 1 (S. 10/11) enthält dann die nüchterne statistische Übersicht über „Freigekaufte Häftlinge“, aufgelistet Jahr für Jahr von 1963 bis 1989: Anzahl der Haftentlassenen sowie jeweils „Gesamtkosten für die Bundesregierung (in DM)“. „Insgesamt 31.775“ Haftentlassene und für die andere Seite „3.399.337.134,64“ DM Kosten.
Diese Angaben sind übernommen aus: W. Brinkschulte u.a., Freikaufgewinnler – Die Mitverdiener im Westen, Frankfurt-Berlin 1993, S. 23f.

Jk. schlussfolgert: „Das bedeutet, dass von 1964 bis 1989 in 25 Jahren rund 1.270 Häftlinge pro Jahr die DDR-Zuchthäuser bzw. Gefängnisse verlassen konnten.“ (S. 11; wobei diese Zahl die 1963 freigekauften 8 Häftlinge nicht berücksichtigt, da es sich dabei um den sog. „Probelauf“ handelte.) Die Bundesregierung hat anfangs ca. 40.000 DM für jeden „Freigekauften“ gezahlt. Später haben die von den beteiligten Seiten Beauftragten einen durchschnittlichen Einheitspreis von ca. 90.000 DM pro freigekauften Häftling ausgehandelt („Kopfgeldgebühr“!).

Der Autor schildert, wie es zu den Kontakten der beteiligten Unterhändler kam, wer über die Jahre als Akteure für die beiden Seiten tätig geworden ist, wie die Vereinbarungen zustande gekommen sind, wie die „Freikauflisten“ ausgehandelt worden sind. Er erläutert mit Bezug auf die wenigen zugänglichen Unterlagen das Verfahren der technischen Abwicklung, die Berechnungen, die Art und Weise der Bezahlung usw.

Für die DDR-Seite haben vor allem RA Wolfgang Vogel sowie Manfred Seidel und Alexander Schalck-Golodkowski  von der KoKo (Kommerzielle Koordinierung) die Geschäfte des Häftlingsverkaufs gegen Devisen engagiert und abgewickelt. Auf westlicher Seite waren in dieser heiklen Mission in Zusammenarbeit mit Direktor Ludwig Geißel vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche vor allem der spätere Staatssekretär Ludwig A. Rehlinger und RA Jürgen Stange tätig.

Der Autor listet auf, welche Waren  und Devisenwerte von der DDR-Seite gefordert worden sind, von Rohstoffen, Steinkohle und Koks, über industrielle Ausrüstungen und Konsumgüter – bis hin zu den bestellten und auch prompt gelieferten West-Pkw für die DDR-Oberen…

Heute, viele Jahre später nochmals diese Zusammenstellung von Fakten und Abläufen im deutsch-deutschen Menschenhandel zur Kenntnis zu nehmen – das kann nachträglich nur nochmals tiefes Befremden auslösen.


Problematische Wertungen


Die vorliegende Veröffentlichung enthält Wertungen, die teilweise einseitig bzw. einfach unzureichend oder falsch sind. Jk. schreibt: Der „Verkauf der Häftlinge an den Klassenfeind hatte ökonomische (Devisen)Gründe. Im Gegensatz dazu ließ sich die Bundesrepublik ausschließlich von humanitären Motiven leiten“ (S. 82).
Der Autor übergeht aber weitgehend, in welchem Maße vom Westen aus ökonomischer und politischer Druck auf „die Zone“, sprich den souveränen ostdeutschen Staat DDR, ausgeübt worden ist. Die Bundesrepublik hat ja schließlich über Jahrzehnte auf ihrem „Alleinvertretungsanspruch“ beharrt und alles nur Denkbare unternommen, die Existenz der DDR als souveränen Staat in Frage zu stellen.

In Sachen Häftlings-Freikauf haben Akteure auf beiden Seiten damit argumentiert, dass die Bundesrepublik die von der DDR aufgewendeten Ausbildungskosten der nach Westen Abgewanderten zu ersetzen hatte. Das ist ein wichtiger, aber eben nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Es ist abwegig und irreführend, behaupten zu wollen, dass die insgesamt erlangten ökonomischen Vorteile für den Westen mit den Zahlungen für die aus der Haft in der DDR Freigekauften ausgeglichen worden seien.


Nachbemerkungen


So schwer es fällt: Wenn man über Gründe für das Scheitern des Realsozialismus vor mehr als zwanzig Jahren nachdenkt, kommt man nicht umhin, auch den sog. „Freikauf“ politischer Häftlinge durch die DDR an die Bundesrepublik zugunsten von Devisen in die Betrachtung einzubeziehen.

Kommunisten und Sozialdemokraten waren im Osten Deutschlands nach dem Ende des Krieges angetreten, die Lehren aus der verhängnisvollen deutschen Geschichte zu ziehen und eine friedliche, sozial gerechtere Ordnung zu errichten. In den Verlautbarungen der SED, in der Verfassung der DDR von 1949 und in den Gesetzen des Arbeiter-und-Bauern-Staates sind Frieden, Freiheit, Demokratie und Humanismus als maßgebende Prinzipien proklamiert worden. Und es ist zum anderen Fakt, dass der Westen, in dem die Kapitalordnung wieder aufgelebt ist, das Bestreben, im Osten Deutschlands eine neue, gerechtere Gesellschaft aufzubauen, mit allen Kräften behindert hat.

Aber das rechtfertigt nicht, aus politischen Zwecksetzungen und ernsten ökonomischen Zwängen heraus mit staatlichen Maßnahmen die immer wieder proklamierten Grundsätze von Menschlichkeit und Gerechtigkeit einfach außer Kraft zu setzen. Und es ist auch abwegig, diese Aktionen damit rechtfertigen zu wollen, dass es sich ja bei den gegen Devisenzahlung durch die Bundesrepublik „Freigekauften“ um politische Gegner der DDR gehandelt hätte.

Der sog. „Häftlings-Freikauf“ Zehntausender – was war das anderes als eine Form modernen, staatlich organisierten Menschenhandels? Das war doch nichts anderes als ein „florierendes Geschäft“– jenseits aller humanistischen Grundsätze, mit denen der Sozialismus als neue, gerechtere politische und soziale Ordnung angetreten ist. Und dieser Handel widersprach ja auch allen proklamierten rechtsstaatlichen Regeln der bundesrepublikanischen Ordnung sowie den entsprechenden UN-Menschenrechtsdeklarationen.

Den für den Fortbestand der DDR Verantwortlichen ist es nicht gelungen, tragfähige Konzepte zur Behauptung des Realsozialismus gegen den übermächtigen Druck des Westens zu entwickeln. Und auch mit solchen fragwürdigen Aktionen, wie dem Deal mit der Bundesrepublik zum „Freikauf“ politischer Häftlinge gegen Devisen konnte das Scheitern des Realsozialismus nicht aufhalten werden. Im Gegenteil!
Auf diesem Weg haben zwar einzelne politisch Andersdenkende und Staatsgegner ihr persönliches Ziel, Ausreise aus dem von ihnen ungeliebten Staat DDR, erreicht. Insgesamt betrachtet hat sich der deutsch-deutsche Häftlings-Freikauf aber letztlich nur für die Gegenseite „ausgezahlt“. Das ist letztlich auch der plausible Grund für das „beredte Schweigen“ diesbezüglich in vielen historischen Betrachtungen aus bundesrepublikanischer Sicht.

Für die DDR-Seite ist noch zu ergänzen, dass auch engagierte Menschenrechts-Propagandisten beim verordneten großen Schweigen darüber einfach mitgemacht haben. Irgendwie zu rechtfertigende Motive hierfür sind bis heute nicht ersichtlich.
Genauso befremdet es, dass aktuell in manchen historischen Rückblicken und nostalgisch-beschönigenden DDR-Erinnerungen unter anderem auch dieses Kapitel der deutsch-deutschen Beziehungen zu Zeiten des Kalten Krieges einfach ausgespart wird – als hätte es so was überhaupt nicht gegeben.

Aber, die Geschichte lehrt: Verschweigen hilft nicht weiter. Es könnte allein dazu geeignet sein, die so dringend gebotene Glaubwürdigkeit ehrlicher DDR-Erinnerungsarbeit zu untergraben.


April 2013